29. Januar 2024Dr. Dierk Bredemeyer

Divergenzvorlage am BVerwG: Fortsetzungsfeststellungsinteresse bei nur kurzfristig erledigten Maßnahmen ohne Möglichkeit einer Überprüfung im Hauptverfahren

BVerwG (6. Senat), Beschluss vom 29.11.2023 – 6 C 2.22

Hat sich ein belastender Verwaltungsakt nach Klageerhebung — etwa durch Zeitablauf — erledigt, spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, dass dieser rechtswidrig gewesen ist, § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO. Der Zugang verwaltungsrechtlichen Rechtsschutzes in der Hauptsache bei bereits erledigten belastenden hoheitlichen Maßnahmen setzt allerdings ein berechtigtes Interesse, das sog. Fortsetzungsfeststellungsinteresse, an einer entsprechenden Feststellung voraus.

Neben dem 6. Senat des BVerwG hatte sich nun auch der 8. Revisionssenat auf Anfrage in einem Revisionsverfahren mit dieser Sachurteilsvoraussetzung auseinanderzusetzen.

Konkret geht es dabei um die Frage, ob ein solches berechtigtes Interesse bereits dann gegeben ist, wenn die angegriffene Maßnahme typischerweise so kurzfristig erledigt ist, dass sie ohne die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses regelmäßig keiner Überprüfung im gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugeführt werden könnte. Fraglich war insbesondere, ob in diesem Fall auch ein qualifizierter (tiefgreifenden, gewichtigen bzw. schwerwiegenden) Grundrechtseingriffs als Voraussetzung für die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresse erfüllt sein muss.

Im zugrundeliegenden Fall hatte die Polizei einem Anhänger des Fußballvereins Borussia Dortmund — den sie selbst als „Capo“ (Anführer) der Ultraszene einstuften — ein Betretungs- und Aufenthaltsverbot für die Dortmunder Innenstadt während des Revierderbys 2019 gegen Schalke 04 verordnet. Die Maßnahme wurde auf das bisherige Verhalten des Fans im Kontext von Fußballgroßveranstaltungen gestützt. Die Polizei ging davon aus, dass der Fan bei der genannten Begegnung vorsätzlich und geplant Straftaten begehen oder zu ihrer Begehung beitragen könnte. Nach Ablauf des Betretungs- und Aufenthaltsverbots wandte sich der Fan mit einer Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO gegen die Maßnahmen. Die Vorinstanzen bescheinigten ihm ein fehlendes berechtigtes Interesse analog § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des bereits vor Klageerhebung erledigten Verwaltungsakts. Eine Wiederholungsgefahr liege nicht vor. Dagegen legte er Revision ein.

Der zuständige 6. Senat wollte sich der Einschätzung der Vorinstanzen anschließen. In diesem Kontext fragte er beim 8. Senat an, ob dieser an seiner zuvor in seiner Grundsatzentscheidung vom 16. Mai 2013 vertretenen Ansicht festhält: dieser bejahte ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse in allen Fällen, in denen sich das Anliegen des Betroffenen mangels eines berechtigten rechtlichen, ideellen oder wirtschaftlichen Interesses in der bloßen Klärung der Rechtmäßigkeit des erledigten Verwaltungsakts erschöpfe, wenn andernfalls kein wirksamer Rechtsschutz gegen solche Eingriffe zu erlangen wäre. Eine Gewichtigkeit des Grundrechtseingriffs fordert er hingegen nicht. Gestützt wurde diese Ansicht auf Art. 19 Abs. 4 GG.

Nach Ansicht des 6. Senat reiche die reine Tatsache, dass solche Maßnahmen vor ihrer Erledigung üblicherweise nicht gerichtlich überprüft werden könnten, für ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse nicht aus. Insbesondere im Polizeirecht könne dies bei Maßnahmen mit typischerweise nur kurzer Geltungsdauer ansonsten dazu führen, dass das berechtigte Interesse aus § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO auch dann vorliege, wenn nur noch um die bloße Klärung der Rechtmäßigkeit des erledigten Verwaltungsakts gestritten werde. Da jeder belastende Verwaltungsakt zumindest in Art. 2 Abs. 1 GG eingreife, liefe das prozessuale Erfordernis eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses insoweit praktisch leer. 

Ob der 8. Revisionssenat des BVwerG an seiner Rechtsauffassung festhält (§ 11 Abs. 3 S. 1 VwGO) und die Divergenzvorlage an den Großen Senat geht, bleibt abzuwarten. Die Frage nach der Voraussetzung eines qualifizierten Grundrechtseingriffs ist auch im Schrifttum umstritten.